Nach Fassbinders „Welt am Draht“,
zeitgleich mit „Matrix“ und lange vor „Inception“ erschienen,
zeigte uns David Cronenberg seine Vision virtueller Welten.
In
der Zukunft sind die Designer interaktiver Spiele an der Macht.
Spieler messen sich in einer VR-Welt, die von der realen Welt kaum
noch zu unterscheiden ist. Eine Game-Community trifft sich in
einer abgelegenen Kirche, um das neueste Spiel von Designerin Allegra
Geller (Jennifer Jason Leigh) zu testen. Doch dann versucht jemand
die berühmte Spieledesignerin zu töten. Sie flieht zusammen mit dem
unerfahrenen Marketingpraktikanten Ted Pikul (Jude Law).
Man sollte schon mal ein Videospiel
gespielt haben, um den Detailreichtum in „eXistenZ“ überhaupt
überblicken zu können. Cronenbergs langjährige Production
Designerin Carol Spier hatte sichtlich Spaß an diesem Film und schuf
bizarre Welten, Level und Räume. Jude Laws Figur Ted Pikul urteilt
einmal über die Welt im Film „Das ist alles so grotesk.“ und
gibt damit zu verstehen, dass er das künstliche entlarvt hat.
Während die Realität ein Ort der
Willkür ist, dessen Sinn und Bedeutung der Mensch erst durch seine
kognitiven Fähigkeiten verstehen muss, wo er vielleicht sogar
Bezüge herstellt, die gar nicht existieren, da geht der virtuelle
Raum respektive das Leveldesign eines Videospiels den umgekehrten
Weg. Diese Welten sind nicht willkürlich erschaffen worden, sie
folgen einer inneren Logik. Ihre Gestaltung folgt Mustern.
Dementsprechend nimmt die virtuelle Welt bereits die kognitiven
Fähigkeiten des Subjekts in ihm vorweg. Dieses Paradox nimmt der
gesunde Geist sehr schnell wahr, weshalb Ted Pikul zum Schluss kommt
„Das ist alles so grotesk.“
Darin erscheint nicht nur ein Dilemma
virtueller Welten, sondern aller Künste, welche die Realität als
Vorlage haben, das Kino zum Beispiel. Das Gleichnis zwischen der
Gamedesignerin und dem Regisseur zwingt uns der Film förmlich auf
und Allegra Geller wird dadurch zum ersten weiblichen Alter Ego
Cronenbergs. Ähnlich wie Geller sich im Film zahlreicher Gegner
ihrer Kunst stellen muss, so ist auch Cronenberg in seiner Karriere
mit vielen Zensoren aneinander geraten.
Nichtsdestotrotz erscheint der Konflikt
Kunst und Realität das eigentliche Hauptthema von „eXistenZ“ zu
sein. Die Frage ist: Führen virtuelle Welten zu einer neuen
kopernikanischen Wende? Denn inwieweit und vorallem wie lange kann
Ted Pikul sich noch sicher sein, dass er sich in einem künstlichen
Raum befindet? Beim Filmemachen, wie auch beim Videospielkreieren
geht es darum das Unglaubwürdige glaubhaft zu machen. Wann hat sich
Pikuls Verstand daran gewöhnt, dass die Welt um ihn herum grotesk
ist? Wie kann er sich dem noch sicher sein, wenn seine kognitiven
Fähigkeiten zunehmend verkümmern und die Welt das Denken übernimmt?
Cronenberg wurde vielfach Kultur-,
Wissenschafts- und Medienpessimismus vorgeworfen. In Wahrheit sind
seine Filme weder pro noch kontra, auch in „eXistenZ“. Während
in „Matrix“ oder später „Inception“ der Realitätsverlust
stets negativ betrachtet wird, stellt Cronenbergs Film unverhohlen
die Frage, wofür man die Realität überhaupt noch bräuchte. Die
meisten Figuren in „eXistenZ“ spielen diese Spiele nicht um sich
gefangen nehmen zu lassen, sondern um frei zu sein. Die Realität hat
nur den Sinn, den ich ihr gebe und selbst dann weiß ich nicht ob ich
richtig liege. Ein Videospiel belohnt dich dafür, dass du den
richtigen Sinn erkannt hast. Es geht weiter. Dementsprechend folgt
der Spieler der Logik des Spiels, denkt was das Spiel denkt und
handelt wie der Schöpfer es will. Nicht ohne Grund wird Allegra
Geller von manchen Fans als Gottheit verehrt und wiederum gibt es
andere Gruppierungen, die in ihr eine Dämonin sehen. Hier geht es um
einen Glaubenskrieg. Falls Gott unsere Welt erschaffen hat, brauchen
wir sie jetzt nicht mehr. Wer direkt in den Himmel will, braucht nur
die Konsole anzuschalten. Das gilt auch für die Hölle.
Innerhalb von Cronenbergs Werk nimmt
„eXistenZ“ eine Sonderstellung ein. Nach dem reduktionistischen
„Crash“ und vor dem sanften „Spider“, wirkt „eXistenZ“
wie der Nachruf zu Cronenbergs Frühwerk, wie der späte Abschluss
einer Trilogie, die mit „Videodrome“ und „Naked Lunch“
begann.
Vielleicht lag es auch an der
Jahreszahl 1999, dass Cronenberg sich auch das erste mal zu einer
wirklichen Zukunftsvision hinreißen ließ. Alle seine anderen
Sci-Fi-Filme spielen praktisch in der Gegenwart, da ihre
wissenschaftlichen Novi nicht Teil einer gesellschaftlichen Utopie
sind. Anders als in „eXistenZ“, wo die Erfindung virtueller
Welten zu einem neuen Religionskrieg geführt hat.
All das konnte man noch nicht
vorhersehen, doch das neue Jahrtausend ist geprägt durch „Ismen“ und Glaubenskonflikte, Wirtschaftskollaps und
Umweltzerstörung. Unsere heutige Welt ähnelt einem
Super-Mario-Level indem es darum geht möglichst oft in einen Abgrund
zu springen. Wo wir wieder bei Kant wären, eine Nebenwirkung der
Aufklärung vielleicht? Warum also sollte man sich nicht wieder in
die Unmündigkeit begeben? Wir flüchten einfach in virtuelle Welten,
die man nicht kaputt machen kann, wo man niemanden wirklich verletzt
und die einem trotzdem das Gefühl geben Ziele zu erreichen, die von
Belang sind, solange man fest genug daran glaubt. Unser realer Körper
bleibt einfach liegen und kann niemandem etwas antun. Er vegetiert
einfach vor sich hin und lässt die Welt in Frieden, die sowieso
nicht für ihn geschaffen wurde. Ist das grotesk? Am Ende von
„eXistenZ“ stellt jemand eine einfache, aber weitreichende Frage:
„Sind wir noch im Spiel?“ In Zukunft wird die Antwort lauten: Wen
kümmert's?
Wertung: 8/10
"eXistenZ"
US 1999
David Cronenberg
mit Jennifer Jason Leigh, Jude Law, Ian Holm
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